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BGH stärkt Anspruch auf rechtliches Gehör: Beweisangeboten ist auch bei widersprüchlichem Parteivortrag nachzugehen

BGH, Beschluss vom 20.11.2024 – VII ZR 191/23

In zivilrechtlichen Verfahren kommt es gerade im Bauvertragsrecht vor, dass sich der Sachvortrag einer Partei im Laufe des Prozesses verändert oder widersprüchlich erscheint. Die Gerichte stehen dann vor der Herausforderung, diesen Vortrag rechtlich einzuordnen und sachgerecht zu würdigen. Der BGH hat in einem aktuellen Beschluss betont, dass selbst bei widersprüchlichem Vortrag eine Beweisaufnahme grundsätzlich nicht unterbleiben darf. Die Entscheidung stärkt den verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf rechtliches Gehör. Sie gibt  darüber hinaus wichtige Hinweise zum Umgang mit streitigem Parteivortrag und zur Prüfbarkeit von Schlussrechnungen.

Der Sachverhalt

Im Zentrum der Entscheidung des VII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs steht ein Streit zwischen einer klagenden Bauunternehmerin und einem beklagten Bauherrn über die Höhe einer Werklohnforderung. Mit der Klage hat das Bauunternehmen aus einem gekündigten Einheitspreisvertrag die Zahlung von Werklohn auf der Grundlage ihrer Schlussrechnung geltend gemacht. Im Laufe des Prozesses hat die Klägerin sodann eine zweite Schlussrechnung mit einem deutlich höheren Leistungsstand erstellt und diese zur neuen Grundlage ihrer Klage gemacht.

Der Unterschied zwischen den beiden Rechnungen bestand darin, dass die erste Schlussrechnung einen Abzug für nicht erbrachte Leistungen in Höhe von rund EUR 32.800 enthielt, während dieser Abzug in der zweiten Schlussrechnung nicht mehr auftauchte, sondern als erbrachte Leistung dargestellt war. Die Klägerin erklärte diesen Wechsel damit, dass der Abzug in der ersten Rechnung einem skontogleichen Nachlass ihrer Nachunternehmerin entsprochen habe – dieser sei jedoch nur unter der Bedingung sofortiger Zahlung durch den Beklagten gewährt worden. Da der Beklagte nicht fristgerecht zahlte, sei die Voraussetzung für diesen Nachlass entfallen, weshalb die zweite Rechnung nunmehr die tatsächlich erbrachten Leistungen korrekt abbilde.

Das Landgericht hatte die Klage als derzeit unbegründet abgewiesen, weil die Schlussrechnung nicht prüfbar gewesen sei. Die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin blieb ohne Erfolg, denn das Berufungsgericht folgte dieser Argumentation. Es wies bei der Zurückweisung der Berufung darauf hin, dass sich aus dem vermeintlich widersprüchlichen Parteivortrag eine unzureichende Prüfbarkeit der Schlussrechnung ergebe. Ein von der Klägerin zum Beweis der inhaltlichen Richtigkeit ihrer zweiten Schlussrechnung angebotenes Sachverständigengutachten hat das Berufungsgericht nicht eingeholt.

Die Entscheidung des BGH

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hob der BGH die Entscheidung des Berufungsgerichts auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurück. Nach Auffassung des Senats hatte das Berufungsgericht durch die unterbliebene Einholung eines Sachverständigengutachtens den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

Kern der Entscheidung ist die Feststellung, dass ein – auch widersprüchlicher oder später geänderter – Parteivortrag grundsätzlich der richterlichen Würdigung in der Beweisaufnahme zugänglich sein muss. Das Berufungsgericht hatte die geänderte Darstellung der Klägerin zur Bedeutung des in der ersten Schlussrechnung enthaltenen Abzugs nicht berücksichtigt und stattdessen die zweite Schlussrechnung als widersprüchlich und deshalb nicht prüfbar zurückgewiesen. Dies erfolgte, ohne den von der Klägerin für die Richtigkeit ihrer Schlussrechnung angebotenen Sachverständigenbeweis zu erheben. Stattdessen hatte das Berufungsgericht zunächst eine Beweisführung für die behaupteten Gründe des Vortragswechsels verlangt, was jedoch eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung darstellt, die gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstößt.

Der BGH betont in seinem Beschluss, dass die Gerichte bei der Beurteilung von Parteivortrag keine vorweggenommene Beweiswürdigung vornehmen dürfen. Selbst wenn der Sachvortrag einer Partei widersprüchlich erscheint, ist es nicht zulässig, daraus ohne Beweisaufnahme auf dessen Unrichtigkeit zu schließen. Vielmehr ist ein solcher Sachvortrag im Rahmen einer umfassenden Beweiswürdigung zu prüfen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die beweisbelastete Partei die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Klärung der streitigen Punkte angeboten hat.

Darüber hinaus stellt der BGH klar, dass es für die Prüfbarkeit einer Schlussrechnung nicht darauf ankommt, ob sie widerspruchsfrei zu einer vorherigen Rechnung ist. Auch etwaige Änderungen oder Korrekturen einer Schlussrechnung führen nicht automatisch dazu, dass die Schlussrechnung nicht prüfbar ist. Entscheidend ist vielmehr, ob die erbrachten Leistungen nachvollziehbar dargestellt sind und eine sachverständige Prüfung möglich ist. Die inhaltliche Richtigkeit der Abrechnung ist nicht mit deren Prüfbarkeit gleichzusetzen.

Fazit

Mit seinem Beschluss vom 20.11.2024 stärkt der BGH einmal mehr das verfassungsrechtlich verankerte Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs. Der BGH mahnt eine sorgfältige und rechtsstaatlich ordnungsgemäße Verfahrensweise im Umgang mit Parteivortrag an. Gerichte dürfen widersprüchliche oder sich im Laufe des Verfahrens ändernde Sachverhaltsschilderungen nicht mit einem pauschalen Hinweis auf unzureichende Plausibilität zurückweisen. Vielmehr ist es Pflicht der Gerichte, den vorgetragenen Sachverhalt durch die von den Parteien angebotenen Beweismittel aufzuklären, bevor eine Würdigung erfolgt.

Für die gerichtliche Praxis bedeutet dies: Die Schwelle zur Annahme der Unbeachtlichkeit eines Parteivortrags darf nicht zu niedrig angesetzt werden. Selbst wenn ein Vortrag unstimmig erscheint, darf dies nicht zur Versagung der Beweisaufnahme führen. Denn andernfalls besteht die Gefahr, dass materiell berechtigte Ansprüche allein wegen formeller Hürden unbeachtet bleiben. Dieses Risiko würde das Gebot eines rechtsstaatlich fairen Verfahrens unzulässig unterlaufen.

Für die Prüfbarkeit einer Schlussrechnung folgt aus der Entscheidung des BGH, dass diese nicht durch inhaltliche Änderungen ausgeschlossen wird. Entscheidend ist, ob die Rechnung – gegebenenfalls mithilfe sachverständiger Unterstützung – nachvollzogen werden kann. Den Versuch, inhaltliche Unstimmigkeiten in der Sachverhaltsdarstellung pauschal als „unsubstantiiert“ oder „unprüfbar“ zu werten, hat der BGH deutlich zurückgewiesen.

Nicht zuletzt ist die Entscheidung auch ein Signal an Parteien, ihre Position im Prozessverlauf – sofern notwendig – plausibel zu entwickeln und zu begründen. Gleichzeitig verpflichtet sie die Gerichte dazu, auch solchen Sachverhaltsschilderungen Gehör zu gewähren, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen mögen. Denn ob widersprüchlich erscheinende Sachverhaltsangaben inhaltlich richtig oder unrichtig sind, klärt sich oft erst im Zuge einer sachkundigen Beweisaufnahme.

Autor

Sebastian Jakobi, LL.M.

Sebastian Jakobi, LL.M.

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