News | Newsletter | Neues zum Vergaberecht 02/2025
Vorgaben zum Material eines Produkts sind nur im Ausnahmefall zulässig!
Nach dem Grundsatz der Produktneutralität dürfen öffentliche Auftraggeber in der Leistungsbeschreibung nur ausnahmsweise auf bestimmte Produkte oder Hersteller verweisen. Nach der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sollen Vorgaben zu Materialien, aus denen die auftragsgegenständlichen Produkte bestehen, nun denselben strengen Voraussetzungen unterfallen. Zudem besteht keine Nachrangigkeit der funktionalen Leistungsbeschreibung gegenüber einem Leistungsverzeichnis.
EuGH, Urteil vom 16.01.2025, C-424-23
Ein öffentlicher Auftraggeber aus Belgien, der für die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung zuständig ist, schrieb einen Auftrag für den Bau und die Erneuerung von Abwasserkanälen aus. Die Leistungsbeschreibung sah vor, dass für die Systeme zur Ableitung von Abwasser Rohre aus Steinzeug und für die Systeme zur Ableitung von Regenwasser Rohre aus Beton angeboten werden mussten. Die Verwendung anderer Materialien wurde nur unter besonderen technischen Umständen gestattet. Ein Unternehmen, das Abwasserrohre nur aus Kunststoff herstellte, war der Auffassung, dass die genannten Vorgaben der Leistungsbeschreibung gegen das Vergaberecht verstießen.
Auf eine entsprechende Vorlagefrage des für den Rechtsstreit zuständigen belgischen Gerichts zur Auslegung von Art. 42 der EU-Vergaberichtlinie 2014/24 hat der EuGH zunächst klargestellt, dass zwischen den Methoden der Leistungsbeschreibung keine Hierarchie besteht. Zudem dürfen öffentliche Auftraggeber in den technischen Spezifikationen - also der Leistungsbeschreibung - grundsätzlich keine Vorgaben zu den Materialien der angebotenen Waren machen.
Das Gericht stützt sich bei seiner Entscheidung darauf, dass das Material, aus dem ein Produkt bestehe, nicht als Leistungs- oder Funktionsanforderung im Sinne von Art. 42 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2014/24 eingestuft werden kann. Ein Material kann zwar dazu beitragen, eine Funktionsanforderung zu erfüllen, ist aber selbst keine Leistungs- oder Funktionsanforderung. Daher gehört eine Materialvorgabe nicht zu den vom EU-Vergaberecht anerkannten Methoden der Formulierung technischer Anforderungen an den Leistungsgegenstand. Das EU-Recht erlaubt nämlich ausschließlich die Beschreibung des Leistungsgegenstands anhand von Leistungs- oder Funktionsanforderungen (Variante 1) oder unter Bezugnahme auf bestimmte technische Bezugssysteme (Variante 2) oder als Kombination beider Varianten (Variante 3). Dabei besteht zwischen einer funktionalen Leistungsbeschreibung und einem Leistungsverzeichnis keine Hierarchie.
Nach Art. 42 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24 ist es zudem grundsätzlich verboten, in die technischen Spezifikationen „auf eine bestimmte Herstellung oder Herkunft oder ein besonderes Verfahren, das die von einem bestimmten Wirtschaftsteilnehmer bereitgestellten Waren oder Dienstleistungen charakterisiert“ zu verweisen, wenn dadurch bestimmte Unternehmen oder bestimmte Waren begünstigt oder ausgeschlossen werden. Solche Verweise tragen nämlich nicht dazu bei, das öffentliche Auftragswesen für den Wettbewerb zu öffnen, sondern bewirkten umgekehrt eine Einengung des Wettbewerbs. Dies gilt gerade auch für Vorgaben an bestimmte Materialien. Dementsprechend ist die Vorgabe eines bestimmten Materials der zu beschaffenden Waren lediglich in zwei Fällen zulässig: Zum einen kann eine Materialvorgabe mit dem Zusatz „oder gleichwertig“ erfolgen, wenn der Auftragsgegenstand andernfalls nicht hinreichend genau und allgemein verständlich beschrieben werden kann. Zum zweiten ist die Vorgabe eines Materials - auch ohne den Zusatz „oder gleichwertig“ - zulässig, wenn die Anforderung sachlich gerechtfertigt ist.
Fazit
Bislang war die Auffassung weit verbreitet, dass die Wahl des Materials von der Freiheit des öffentlichen Auftraggebers umfasst sei, den Beschaffungsgegenstand zu definieren. Darüber hinaus sollten Materialvorgaben zu einer eindeutigen und erschöpfenden Leistungsbeschreibung dazugehören. Das Urteil des EuGH steht in Widerspruch zu der Praxis, Materialvorgaben in konstruktive Leistungsbeschreibungen bzw. Leistungsverzeichnisse aufzunehmen. Stattdessen unterstreicht die Entscheidung die besondere Bedeutung einer offenen und innovationsfreundlichen Vergabepraxis, bei der unterschiedliche Lösungen miteinander konkurrieren sollen. Auftraggeber müssen demzufolge in jedem Einzelfall sorgfältig prüfen, ob Gründe vorliegen, die eine Materialvorgabe sachlich rechtfertigen.
Darüber hinaus dürfte der in § 7c EU Abs. 1 VOB/A vorgesehene grundsätzliche Vorrang des Leistungsverzeichnisses gegenüber der funktionalen Leistungsbeschreibung nach der aktuellen Rechtsprechung des EuGH nicht mehr anzuwenden sein. Das erleichtert die gemeinsame Vergabe von Planungs- und Bauleistungen und kann eine Gesamtvergabe im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens ermöglichen.
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