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Vergaberecht und Katastrophenhilfe: Ein Widerspruch in sich?

NRW und Rheinland-Pfalz schaffen massive Erleichterungen im Unterschwellenbereich zum Wiederaufbau in den Überschwemmungsgebieten

Die verheerenden Unwetter Mitte Juli haben Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz schwer getroffen. Die Bilder vom Ausmaß der Zerstörung riefen deutschlandweit tiefste Betroffenheit hervor und die Frage, wie diese Schäden jemals behoben werden können, drängt sich auf.

Reflexartig geriet – wie auch zu Beginn der Coronapandemie – das Vergaberecht in den Fokus der Politik, das vorgeblich einer der Hauptgründe sei, weshalb die Öffentliche Hand sich in Krisenzeiten schwertue, angemessen und zügig zu reagieren. Mit „rasender Geschwindigkeit“, nämlich binnen vier Tagen, setzte etwa das Land Rheinland-Pfalz das Unterschwellenvergaberecht für Beschaffungen zur Krisenbewältigung faktisch außer Kraft, indem nun Liefer-und Dienstleistungen bis zu einem Auftragswert von EUR 214.000,00 und Bauleistungen bis zu einem Gesamtwert von EUR 5,35 Mio. direkt und ohne förmliches Verfahren vergeben werden können. Problematisch, wenngleich für Öffentliche Auftraggeber interessant, ist, dass in Rheinland-Pfalz auch Beschaffungen die nur „mittelbar zur Bewältigung der Flutkatastrophe beitragen“ vom Vergaberecht befreit sind.

Während eine befristete Aussetzung des Vergaberechts für unmittelbare Bewältigungsmaßnahmen gerechtfertigt erscheint und möglicherweise erhöhte Angebotspreise an dieser Stelle hinzunehmen sind, um das Nötigste, insbesondere kritische Infrastrukturen, zügig wiederherzustellen, bleibt somit die Frage, welche Maßnahmen der „mittelbaren“ Bewältigung zuzurechnen sind. Denn mit entsprechend „kreativen“ Begründungen ließe sich der Anwendungsbereich dieser Formulierung erheblich ausdehnen.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat sich an dieser Stelle etwas mehr Zeit gelassen und mit Runderlass vom 04.08.2021 eine deutlich differenziertere Erleichterung geschaffen. Durch die Formulierung eines konkreten Ziels – im Wesentlichen die Widerherstellung der Infrastruktur – sollen nur solche Vergaben erleichtert werden, die diesem Zweck dienen. Naturgemäß lässt auch der Runderlass aus NRW einen gewissen Auslegungsspielraum dahingehend, welche Vergaben dies konkret sein können; der Ansatz erscheint jedoch selektiver, was zu begrüßen ist.

Denn es steht einerseits völlig außer Frage, dass die betroffenen Regionen pragmatisch, schnell und unbürokratisch wiederaufgebaut werden müssen. Dies erfordert zuallererst eine funktionierende Infrastruktur, also Straßen, Schienen und Brücken, aber auch eine intakte Strom-, Gas- und Trinkwasserversorgung. Wenn jedoch in den Medien zu lesen ist, dass Vergabeverfahren „jahrelang“ dauern, kann man sich als Praktiker nur wundern.

Ohne Zweifel gibt es hochkomplexe Verfahren, die mitunter länger dauern, aber gerade Bauvergaben werden zu einem Großteil in Offenen Verfahren mit einer reinen Preiswertung vergeben. In Fällen besonderer Dringlichkeit, die im Falle der aktuellen Ereignisse offensichtlich gegeben ist, kann ein Verfahren auch nach geltendem Recht in drei bis vier Wochen abgewickelt werden.

Dennoch erscheinen angesichts der besonderen Notlage, in der auch ein Verfahren von wenigen Wochen „zu lang“ sein kann, temporäre Erleichterungen in der Tat unumgänglich.

Für die Praxis bedeuten die Erleichterungen insbesondere Folgendes:

Einerseits werden regional etablierte Unternehmen voraussichtlich eine Vielzahl von Aufträgen im Wege der Direktvergabe akquirieren können, da die Direktvergaben vorrangig nach dem Prinzip „bekannt und bewährt“ erfolgen dürften. Andererseits werden ortsfremde Unternehmen, die an Aufträgen zum Wiederaufbau interessiert sind, binnen kürzester Zeit viele „Türklinken putzen“ müssen, um auf sich aufmerksam zu machen und überhaupt berücksichtigt zu werden.

Für Öffentliche Auftraggeber schafft die faktische Aussetzung des Vergaberechts im Unterschwellenbereich erhebliche Möglichkeiten: Einerseits können Aufträge zum Wiederaufbau ohne jede Frist vergeben werden. Aufgrund der unbestimmten Formulierungen dürften sich durch kreative Begründungen zudem auch eine Vielzahl von „mittelbaren“ Aufträgen vergaberechtsfrei vergeben lassen.

Autor

Jonas Deppenkemper

Jonas Deppenkemper