News | Newsletter | Neues zum Baurecht 02/2023
§ 4 Abs. 7 VOB/B ist unwirksam: Keine Kündigung wegen Mängeln vor Abnahme
BGH, Urteil vom 19.01.2023, VII ZR 34/20
Die Auftraggeberin beauftragte die Auftragnehmerin mit dem Ausbau der Stadtbahnlinie. Mit den entlang der Stadtbahnlinie durchzuführenden Straßen- und Tiefbauarbeiten beauftragte die Auftragnehmerin eine Nachunternehmerin. In den Nachunternehmervertrag wurde die VOB/B in der jeweils geltenden Fassung einbezogen. Ebenfalls wurden in den Nachunternehmervertrag die Besonderen Vertragsbedingungen aus dem Hauptauftrag zwischen der Auftraggeberin und der Auftragnehmerin einbezogen, die folglich auch das Nachunternehmervertragsverhältnis regelten.
In diesen Besonderen Vertragsbedingungen wurden mehrfach von der VOB/B abweichende Vereinbarungen getroffen. So sollten die Einheitspreise fest und unveränderbar sein und war der Auftraggeber berechtigt, von gestellten Abschlagsrechnungen lediglich bis zu 90 % auszuzahlen. In dem Leistungsverzeichnis der Auftraggeberin, welches von der Auftragnehmerin an die Nachunternehmerin weitergereicht wurde, heißt es in Bezug auf den Straßenbord unter anderem „Rückenstütze aus Beton B 25 nach Zeichnung herstellen“ sowie „Unterbeton B 25 liefern und nach Zeichnung herstellen“.
Streitig zwischen den Parteien war, ob sich die geschuldete Betonfestigkeitsklasse B 25 (= C20/25) auf den Beton im angelieferten oder im verbauten Zustand bezog. Während der Bauausführung rügte die Auftragnehmerin mehrfach die Qualität des verbauten Betons an einem bestimmten Straßenabschnitt, forderte die Nachunternehmerin unter Fristsetzung zur Mangelbeseitigung auf und drohte für den Fall des fruchtlosen Fristablaufs die außerordentliche Kündigung des ganzen oder eines Teils des Auftrages sowie die Mangelbeseitigung auf Kosten der Nachunternehmerin an. Die Nachunternehmerin bezog sich auf ein Gutachten, aus dem hervorging, dass mit dem gelieferten Beton der Festigkeitsklasse C 20/25 eine Endfestigkeit von B 15 bzw. C 12/15 erreicht werden könne. Die Auftragnehmerin bezog sich auf ein Gutachten, wonach der Beton in sieben Fällen nur die Festigkeitsklasse C 12/15 und in vier Fällen die Festigkeitsklasse C 8/10 erreicht, so dass die Endfestigkeit des Betons nicht der Festigkeitsklasse C 20/25 entspreche. Die Nachunternehmerin kam dem Verlangen nach Beseitigung der behaupteten Mängel nicht nach. Die Auftragnehmerin kündigte nach Ablauf der letzten gesetzten Frist den Bauvertrag hinsichtlich aller zu diesem Zeitpunkt noch nicht erbrachten Arbeiten. Die Nachunternehmerin macht restlichen Werklohn geltend und begehrt die Feststellung, dass es sich bei der Kündigung durch die Auftragnehmerin um eine freie Kündigung handelt. Die Auftragnehmerin verlangt widerklagend Kosten der Ersatzvornahme, Rückzahlung von auf Abschlagsrechnungen geleistete Zahlungen, Schadenersatz, Ersatz von Avalgebühren und Ausgleich von Mängelbeseitigungskosten bezüglich weiterer Mängel, zudem die Feststellung, dass die behaupteten Mängel vorliegen. Sie beruft sich darauf, dass die von ihr ausgesprochene Kündigung eine berechtigte Kündigung aus wichtigem Grund gewesen sei.
In den Vorinstanzen ist hinsichtlich der Kündigung und der geltend gemachten kündigungsbedingten Kosten sowohl zugunsten der Auftragnehmerin als auch der Nachunternehmerin entschieden worden. In I. Instanz nämlich gab das Landgericht der Auffassung der Nachunternehmerin statt, dass die Kündigung der Auftragnehmerin eine freie Kündigung nach § 8 Nr. 1 VOB/B (2002) gewesen sei. Folglich wurden die von der Auftragnehmerin begehrten Ansprüche abgewiesen.
In II. Instanz entschied das Oberlandesgericht hinsichtlich der Kündigung zugunsten der Auftragnehmerin und stellte fest, dass es sich bei der Kündigung um eine berechtigte Kündigung aus wichtigen Grund gemäß § 8 Nr. 3 Abs. 1 VOB/B (2002) handelt und der Auftragnehmerin deshalb grundsätzlich Ersatzvornahmekosten zustehen und hat den Rechtsstreit im Übrigen zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Die Nachunternehmerin begehrte die Wiederherstellung des (Teil-)Urteils in I. Instanz. Die Nachunternehmerin dringt mit ihren Einwänden durch.
Der Bundesgerichtshof hat die auf § 4 Nr. 7 Satz 3 i. V. m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) gestützte Kündigung der Auftragnehmerin aus wichtigem Grund für unwirksam erklärt, weil insbesondere § 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B (202) ebenso wie die hierauf rückbezogene Bestimmung in § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) bei Verwendung durch den Auftraggeber einer Inhaltskontrolle nicht standhalten. Denn die Kündigungsregelungen in § 4 Nr. 7 Satz 3 i. V. m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) benachteiligen den Auftragnehmer unangemessen im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB. Der Bundesgerichtshof hat ausgeführt, dass die Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB eröffnet ist, weil die VOB/B nicht als Ganzes vereinbart war. Die Regelungen in den Besonderen Vertragsbedingungen weichen von den Regelungen der VOB/B ab, und zwar soweit die Einheitspreise als fest und unveränderbar vereinbart wurden von § 2 Nr. 3 VOB/B (2002) und hinsichtlich der nur 90 %igen Auszahlung von Abschlagsrechnungen von § 16 Nr. 1 Abs. 1 Satz 1 VOB/B (2002), wonach 100 % des Wertes der jeweils nachgewiesenen vertragsgemäßen Leistungen einschließlich Umsatzsteuer zu bezahlen sind. Im Weiteren hat der Bundesgerichtshof dargestellt, weshalb § 4 Nr. 7 Satz 3 i. V. m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) den Auftragnehmer unangemessen benachteiligen.
Hierzu führt der Bundesgerichtshof aus, dass § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) keinen eigenen Kündigungsgrund enthält, sondern auf das in § 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B (2002) geregelte Kündigungsrecht unter den dort angegebenen Voraussetzungen Bezug nimmt. Aus diesen wechselbezüglich miteinander verknüpften Regelungen folgt, dass es sich hierbei um eine Kündigung aus wichtigem Grund handelt. § 4 Nr. 7 Satz 3 i. V. m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) müssen also mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung zu den Voraussetzungen einer Kündigung eines Werkvertrages aus wichtigem Grund, von denen abgewichen wird, vereinbar sein, um einen Auftragnehmer, der sich der Verwendung der VOB/B ausgesetzt sieht, nicht unangemessen zu benachteiligen.
Dies hat der Bundesgerichtshof verneint. Denn nach den Auslegungsregelungen führt § 4 Nr. 7 Satz 3 i. V. m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) dazu, dass auch bei ganz geringfügigen und unbedeutenden Vertragswidrigkeiten oder Mängeln die Kündigung aus wichtigem Grund eröffnet ist. Nach dem Wortlaut von § 4 Nr. 7 Satz 3 i. V. m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) kann der Auftraggeber dem Auftragnehmer den Auftrag entziehen, wenn eine mangelhafte oder vertragswidrige Leistung in der Ausführungsphase aufgetreten ist, die der Auftragnehmer trotz Fristsetzung und Kündigungsandrohung nicht beseitigt hat. Weitere Voraussetzungen, insbesondere im Hinblick darauf, dass es sich hierbei um eine Kündigung aus wichtigem Grund handelt, enthalten weder § 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B (2002) noch § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002).
Folglich kann die Kündigung aus wichtigem Grund nach § 4 Nr. 7 Satz 3 i. V. m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) einschränkungslos ausgesprochen werden, und zwar unabhängig davon, welches Gewicht die Vertragswidrigkeit oder der Mangel im Hinblick auf die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses haben. § 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B (2002) differenziert insoweit nicht nach der Ursache, der Art, dem Umfang, der Schwere oder den Auswirkungen der Vertragswidrigkeit oder des Mangels. Selbst ein unwesentlicher Mangel, der den Auftraggeber nach § 640 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht zur Verweigerung der Abnahme berechtigen würde, könnte zur Kündigung aus wichtigem Grund führen. Und weiter: Weil die Fristsetzung und die Androhung der Auftragsentziehung in § 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B (2002) lediglich als Formalie formuliert sind, ist eine Kündigung aus wichtigem Grund auch möglich, wenn der Fristsetzung kein anerkennenswertes eigenes Interesse des Auftraggebers an der fristgerechten Beseitigung der vertragswidrigen oder mangelhaften Leistung zugrunde liegt oder die Auftragsentziehung angedroht wird, ohne dass ein - für eine Kündigung aus wichtigem Grund erforderliches - berechtigtes Interesse an der vorzeitigen Vertragsbeendigung besteht.
Auch aus der systematischen Stellung und dem Regelungszusammenhang der §§ 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B (2002) und 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass ganz geringfügige und unbedeutende Vertragswidrigkeiten oder Mängel kein Kündigungsrecht aus wichtigem Grund begründen würden. Dagegen erfordert eine Kündigung aus wichtigem Grund, dass der Auftragnehmer durch ein den Vertragszweck gefährdendes Verhalten die vertragliche Vertrauensgrundlage zum Auftraggeber derart erschüttert hat, dass diesem unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses nicht zugemutet werden kann.
Im Hinblick auf die zu berücksichtigende Dispositionsfreiheit des Auftragnehmers kann eine vertragswidrige oder mangelhafte Werkleistung in der Ausführungsphase nur dann ein wichtiger Grund sein, wenn weitere Umstände hinzutreten, die die Unzumutbarkeit der Vertragsfortsetzung für den Auftraggeber begründen. Solche können sich im Einzelfall aus Umständen ergeben, die einen Bezug zu der potenziell mangelhaften oder vertragswidrigen Leistung aufweisen. In der Gesamtabwägung müssen diese jedoch so schwer wiegen, dass sie zu einer tiefgehenden Störung der für die Fortsetzung des Vertrages notwendigen Vertrauensbeziehung geführt haben.
Ein berechtigtes Interesse des Auftraggebers, die Fertigstellung durch den Auftragnehmer nicht mehr abwarten zu müssen, kann etwa aus der Ursache, der Art, dem Umfang, der Schwere oder den Auswirkungen der Vertragswidrigkeit oder des Mangels folgen. Die Kündigungsregelung in § 4 Nr. 7 Satz 3 i. V. m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) weicht von diesen wesentlichen Grundgedanken ab, weil der Auftraggeber die Kündigung losgelöst von den Kriterien einer Kündigung aus wichtigem Grund, selbst bei Geringfügigkeit der Vertragswidrigkeiten oder Mängel während der Ausführungsphase aussprechen kann. Aus diesen Gründen widerspricht § 4 Nr. 7 Satz 3 i. V. m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) dem gesetzlichen Leitbild im Sinne von § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB und ist deshalb gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 VOB/B (2002) behält seine Wirksamkeit, soweit die Bestimmung sich nicht auf § 4 Nr. 7 VOB/B (2002) bezieht.
Der Bundesgerichtshof hat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Gericht der II. Instanz zurückverweisen, da er nicht selbst entscheiden konnte, ob die Auftragnehmerin außerhalb des Anwendungsbereiches von § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 VOB/B (2002) ein Recht zur Kündigung aus wichtigem Grund hatte, weil das Gericht der II. Instanz insoweit bisher keine Feststellungen getroffen hat.
Fazit
Bei Vereinbarung der VOB/B ist Vorsicht geboten. Hierbei handelt es sich grundsätzlich um Allgemeine Geschäftsbedingungen, die der Inhaltskontrolle nach dem BGB unterliegen. Eine Privilegierung im Hinblick auf die Inhaltskontrolle erfährt die VOB/B nur, wenn diese als Ganzes vereinbart und ohne irgendwelche Änderungen unverändert übernommen wird. Anderenfalls unterliegt jede einzelne Regelung in der VOB/B der Inhaltskontrolle und steht damit auf dem Prüfstand, ob diese bei Verwendung durch den Auftraggeber den Auftragnehmer unangemessen benachteiligt. Die Entscheidung erging zwar zu § 4 Nr. 7 Satz 3 i. V. m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002). Diese entspricht jedoch inhaltlich den derzeit geltenden Regelungen in § 4 Abs. 7 Satz 3 und § 8 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2016), so dass die vorgenannte Entscheidung auch hierfür gilt.