Section-Image

Neues Vergaberecht – willkürliche Vertragskündigungen bei Nachträgen?

Die neuen §§ 132, 133 GWB enthalten ein bisher nicht existierendes Kündigungsrecht für bestehende Verträge mit öffentlichen AG. Nach § 133 Abs. 1 Nr. 1 GWB können öffentliche AG einen öffentlichen Auftrag während der Vertragslaufzeit kündigen, wenn eine wesentliche Änderung vorgenommen wurde, die nach § 132 GWB ein neues Vergabeverfahren erfordert hätte.

Der Grundsatz nach § 132 Abs. 1 GWB lautet: wesentliche Änderungen eines öffentlichen Auftrags während der Vertragslaufzeit erfordern ein neues Vergabeverfahren. Das heißt aber auch: unwesentliche Änderungen sind zulässig. § 132 GWB zählt Beispiele für wesentliche Änderungen auf. Sie liegen vor, wenn

  1. mit der Änderung Bedingungen eingeführt werden, die, wenn sie für das ursprüngliche Vergabeverfahren gegolten hätten

    a) die Zulassung anderer Bewerber oder Bieter ermöglicht hätten,
    b) die Annahme eines anderen Angebotes ermöglicht hätten oder
    c) das Interesse weiterer Teilnehmer am Vergabeverfahren geweckt hätten,

  2. mit der Änderung das wirtschaftliche Gleichgewicht des öffentlichen Auftrags zu Gunsten des Auftragnehmers in einer Weise verschoben wird, die im ursprünglichen Auftrag nicht vorgesehen war,
  3. mit der Änderung der Umfang des öffentlichen Auftrags erheblich ausgeweitet wird oder
  4. ein neuer Auftragnehmer, den Auftragnehmer in einer anderen als den in Absatz 2 Satz 1 Nr. 4 vorgesehenen Fällen ersetzt.

Damit sind typische Auftragswerterhöhungen in Bauverträgen, wie beispielsweise die Wahl teurerer Ausstattungsgegenstände, teurerer Baustoffe oder aber auch Mehrleistungen, die ein unerwartet schwieriger Baugrund erfordert, grundsätzlich nicht als wesentliche Änderungen einzustufen. Sie hätten, selbst wenn sie bereits zum Vergabezeitpunkt bekannt gewesen wären, keine wettbewerbliche Auswirkung gehabt und auch keine anderen Bieter angezogen. Hier kann auch nicht gekündigt werden.

Weiter sind nach § 132 Abs. 2 GWB Änderungen eines öffentlichen Auftrags immer zulässig, wenn bereits im ursprünglichen Vertrag entsprechende Regelungen (Optionen) enthalten sind. Das ist aber bei Nachträgen meist nicht der Fall.

Wichtig sind daher die weiteren Ausnahmetatbestände gemäß § 132 Abs. 2 GWB, wonach die Auftragsänderung immer zulässig ist, wenn

  1. zusätzliche Liefer-, Bau- oder Dienstleistungen erforderlich geworden sind, die nicht in den ursprünglichen Vergabeunterlagen vorgesehen waren, und ein Wechsel des Auftragnehmers (a) aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen nicht erfolgen kann und (b) mit erheblichen Schwierigkeiten oder beträchtlichen Zusatzkosten für den öffentlichen Auftraggeber verbunden wäre,
  2. die Änderung aufgrund von Umständen erforderlich geworden ist, die der öffentliche Auftraggeber im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht nicht vorhersehen konnte, und sich aufgrund der Änderung der Gesamtcharakter des Auftrags nicht verändert.

In diesen Fällen darf der Preis um nicht mehr als 50 Prozent des Wertes des ursprünglichen Auftrags erhöht werden. Bei mehreren aufeinander folgenden Änderungen des Auftrags gilt diese Beschränkung für den Wert jeder einzelnen Änderung, sofern die Änderungen nicht mit dem Ziel vorgenommen werden, die Vorschriften dieses Teils zu umgehen.

Damit sind die typischen Nachträge im Bauvertrag erfasst, die der AG nach § 1 Abs. 3 und Abs. 4 VOB/B anordnen darf und die zu Mehrvergütungsansprüchen gemäß § 2 Abs. 5 und Abs. 6 VOB/B führen. Bei solchen Änderungen kann meist auch aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen im laufenden Projekt kein Wechsel des AN erfolgen oder wäre jedenfalls mit erheblichen Schwierigkeiten oder beträchtlichen Zusatzkosten für den AG verbunden. §  132 Abs. 2 Nr. 2 und 3 GWB gelten nach der gesetzlichen Formulierung „unbeschadet des § 132 Abs. 1 GWB“. Das bedeutet, dass es sich auch um „wesentliche“ Änderungen des Vertrags handeln kann. Nach § 132 Abs. 5 GWB muss der AG allerdings die Erteilung solcher Nachträge im EU-Amtsblatt bekannt machen. Das ist aber unkritisch, denn hier muss keine Frist mehr abgewartet werden, sondern die Bekanntmachung ist rein deklaratorisch. Für die 50%-Grenze kommt es nur auf den einzelnen Nachtrag an.

Die zulässigen Vertragsänderungen nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 GWB fallen in dieselbe Kategorie. Sie stellen regelmäßig zusätzliche Leistungen im Sinne von § 2 Abs. 6 VOB/B dar. Meist werden sie auch aufgrund von Umständen erforderlich, die vom AG nicht vorhergesehen werden konnten. Das könnten etwa Erschwernisse im Baugrund oder Folgekosten nach notwendiger Korrektur statischer Berechnungen sein.

Wichtig ist noch der letzte Satz des § 132 Abs. 2 GWB, der mehrfache Änderungen und Werterhöhungen betrifft. Bei mehreren aufeinander folgenden Änderungen gilt die Begrenzung auf 50% des Auftragswerts „für den Wert jeder einzelnen Änderung, sofern die Änderungen nicht mit dem Ziel vorgenommen werden, die Vorschriften dieses Teils zu umgehen“. Das bedeutet: mehrere Änderungen, selbst wenn sie in Summe den Auftragswert um mehr als 50% erhöhen, sind auch dann noch zulässig und führen nicht zu einer Neuausschreibungspflicht. Die Änderungen dürfen nur nichts miteinander zu tun haben, damit nicht der Eindruck entsteht, sie würden aufgeteilt, um einzeln unter 50% des Auftragswerts zu bleiben, nur um die ansonsten bestehende Neuausschreibungspflicht zu vermeiden. Kommt es bei einem Projekt zu erheblichen Mehrkosten z. B. bei der Gründung, danach zu einem vom Nachbarn durchgesetzten, temporären Baustopp und sodann zu Mehrkosten, weil z. B. durch statische Fehler ein neues Tragwerk zu berechnen ist, was die Ausführung erheblich verteuert, entsteht keine Pflicht zur erneuten Ausschreibung, selbst wenn jede dieser Änderungen rund 25% der ursprünglichen Auftragssumme ausmacht und daher alle drei Änderungen in Summe die 50%-Grenze überschreiten. Der AG muss die Auftragserweiterung lediglich bekannt machen. Wichtig: die 50%-Grenze gilt nicht für Sektorenauftraggeber wie z.B. die Deutsche Bahn, so § 142 Nr. 3 GWB. Dort können also noch höhere Nachträge beauftragt werden. Allerdings bleibt es auch hier bei der Bekanntmachungspflicht.

Außerdem gibt es noch die eigenständige Regelung des § 132 Abs. 3 GWB. Danach kann ein Auftrag ohne neues Vergabeverfahren zulässigerweise geändert werden, wenn sich sein Gesamtcharakter nicht ändert und der Wert der Änderung bei Bauaufträgen nicht mehr als 15% des ursprünglichen Auftragswerts beträgt. Zusätzlich darf die Änderung den Schwellenwert für Bauaufträge nach § 106 GWB (EUR 5.225.000) nicht überschreiten. Dann ist kein neues Vergabeverfahren erforderlich und es entsteht auch kein Kündigungsrecht des AG.

Kommt es im Einzelfall doch zu einer Überschreitung der Wertgrenzen, kann der AG (nicht der AN!) nach § 133 Abs. 1 GWB kündigen. Das ist neu. Voraussetzung ist, dass eine - wesentliche - Änderung vorgenommen wurde, die nach § 132 GWB ein neues Vergabeverfahren erfordert hätte (und kein Ausnahmetatbestand greift). Ein Problem liegt darin dass die wesentliche Vertragsänderung typischerweise vom AG initiiert wird. Der AN führt in solchen Situationen bereits aus und dennoch kann der AG kündigen – und zwar den gesamten Vertrag!

In einem solchen Vorgehen kann auch ein Missbrauch liegen. Dem AN dürfte somit bei Nachträgen, die ein Kündigungsrecht eröffnen könnten, vor Ausführung ein Leistungsverweigerungsrecht mindestens dann zustehen, wenn er den AG auf die Gefahr der Wertüberschreitung aufmerksam macht und dieser dennoch nicht adäquat reagiert. Der AN muss in solchen Fällen eine Erklärung verlangen können, dass der AG auf eine Kündigung nach § 133 GWB verzichtet. § 8 Abs. 4 VOB/B begrenzt dieses Kündigungsrecht des AG zeitlich auf 12 Werktage nach Bekanntwerden des Kündigungsgrunds. Ferner kann der AG vor Anordnung zur Durchführung solcher werterhöhenden Leistungen diesen beabsichtigten Nachtrag im EU-Amtsblatt bekannt machen und so nach § 135 Abs. 3 Nr. 3 GWB verhindern, dass nach Ablauf der Wartefrist noch jemand deshalb einen Nachprüfungsantrag stellen kann.

Kommt es ohne solche Schritte zu einer Kündigung, so gilt dafür § 133 Abs. 2 GWB. Danach kann der AN nur seine bisher erbrachten Leistungen abrechnen, mehr jedoch nicht. Entgangene AGK, Wagnis und Gewinn entfallen somit. Noch unangenehmer: Sind die bisherigen Leistungen infolge der Kündigung für den öffentlichen AG nicht mehr von Interesse, steht dem AN nach § 133 Abs. 2 Satz 2 GWB insoweit gar kein Anspruch auf Vergütung mehr zu. Diese auf den ersten Blick bedenkliche Regelung wird jedoch durch § 133 Abs. 2 GWB deutlich entschärft, wo es heißt: „die Berechtigung, Schadensersatz zu verlangen, wird durch die Kündigung nicht ausgeschlossen.“ Die Verpflichtung zu gesetzeskonformem Verhalten stellt eine solche vertragliche Pflicht des AG dar. Nimmt der AG ohne Rücksicht auf die Regelung des § 132 GWB Auftragserweiterungen vor, verletzt er seine gesetzlichen Verpflichtungen. Der AN kann dann wegen § 133 Abs. 3 GWB nach § 280 BGB alle ihm entstandenen Kosten sowie entgangene AGK, Wagnis und Gewinn als Schadensersatz vom öffentlichen AG ersetzt verlangen. Es empfiehlt sich daher für einen öffentlichen AG nicht (für private AG gilt das alles ohnehin nicht), auf dieser Basis einen Bauvertrag zu kündigen.

Autor

Prof. Dr. Ralf Leinemann

Prof. Dr. Ralf Leinemann

Weitere Artikel dieser Ausgabe

  • Dr. Thomas Hildebrandt: Zugang und Rechtzeitigkeit eines Telefaxes

     

  • Eva Hildebrandt-Bouchon, M.A.: Haftung des Architekten wegen Baukostenüberschreitung scheidet aus, wenn keine Kostengrenze als Beschaffenheit vereinbart wurde