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Öffentliche Beschaffung unter der Corona-Krise

Deutschland ist im Ausnahmezustand. Die massiven Beschränkungen des öffentlichen Lebens, eine fast zum Stillstand gekommene Reisetätigkeit und die massive Reduzierung des Geschäftsbetriebs vieler Unternehmen haben unvorhergesehene Auswirkungen auf die öffentliche Beschaffung und laufende oder beginnende Vergabeverfahren. Kommunikation zwischen mehreren Beteiligten findet fast nur noch per Telefon oder Videokonferenz statt (wenn man dafür ausgerüstet ist). Die Einhaltung von Fristen, die Durchführung von Verhandlungen oder von Präsentationsveranstaltungen werfen plötzlich kaum lösbare Probleme auf. Bis auf ein paar allgemeine Aussagen gibt es von Regierungsseite nichts. Mit diesem Beitrag wird versucht, einige Leitlinien für die Praxis zusammenzustellen. Vorwiegend geht es um EU-Vergaben oberhalb der Schwellenwerte, die Ausführungen sind aber praktisch durchweg auch auf Unterschwellenvergaben übertragbar.

1. Die eingetretene Krisensituation ermöglicht es, Änderungen bestehender Liefer- und Dienstleistungsverträge gem. § 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 GWB, § 47 Abs. 1 UVgO vorzunehmen. Eine Ausweitung der Liefermengen ist ohne Ausschreibung zulässig, wenn die Preiserhöhung max. 50 % beträgt. Darauf weist auch ein Rundschreiben des Bundeswirtschaftsministeriums vom 19.03.2020 hin.

2. Für begonnene Vergabeverfahren kann nach §§ 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV, 3a EU Abs. 3 Nr. 4 VOB/A bei äußerst dringlichen, zwingenden Gründen aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb zulässig sein. Das dürfte aktuell der Fall sein, auch nach einem Schreiben des BMWI vom 19.03.2020 liegen solche Gründe derzeit vor. Diese Ausnahme ist aber auf Beschaffungen beschränkt, die unmittelbar im Zusammenhang mit der Pandemie erfolgen. Das können auch Rahmenvereinbarungen sein.

3. Sind Beschaffungsbedürfnisse schon jetzt absehbar, empfiehlt sich die Veröffentlichung einer Vorinformation nach § 12 EU VOB/A, 38 VgV, um spätere Verfahrensfristen sehr kurz halten zu können.

4. Die Besonderheiten des Gesundheitsschutzes dürften es ermöglichen, vom Gebot der Fach-und Teillosvergabe nach §§ 5 EU Abs. 2 VOB/A, 30 VgV begründet abzuweichen. Dazu muss aber in der Dokumentation eine spezifische Begründung niedergelegt werden.

5. Wer in Krisenzeiten möglichst viele Bieter haben möchte, ist gut beraten, die formalen Anforderungen an Eignungsnachweise gering zu halten. In jedem Fall sollten Eigenerklärungen ohne Nachweise zum Angebot ausreichen. Allein der für den Auftrag vorgesehene Bieter sollte aufgefordert werden, (nur) die für unerlässlich erachteten Nachweise einzureichen. Ist dieser Bieter bekannt, kann die Einreichung auch nach Vertragsschluss noch erfolgen um einen raschen Zuschlag nicht zu verzögern. Das bietet sich insbesondere dann an, wenn die Nachweise die unmittelbare Auftragsausführung nicht betreffen (Bilanzen, Versicherungsnachweise etc.). Diese Praxis sollte vorsorglich bekanntgemacht werden. Bei Bauunternehmen sollte die Eintragung beim PQ-Verein allein ausreichen.

6. Auch mit nur einem Bieter aus dem Teilnahmewettbewerb, kann das Verfahren nach § 3b EU Abs. 2 Nr. 3 VOB/A mit einem Zuschlag abgeschlossen werden.

7. Auch Verpflichtungserklärungen nach §§ 6d EU Abs. 1 VOB/A, 36 VgV sollten erst nach Vertragsschluss angefordert werden, wenn eine Eigenerklärung des Bieters zur Eignung vorliegt. Ein ungeeigneter Bieter kann auch nach Zuschlag aus diesem Grund bzw. wegen allgemein fehlender Eignung noch gekündigt werden. Eine Verpflichtungserklärung ist aber entbehrlich, wenn nach Zuschlag der Vertrag mit dem entsprechenden Nachunternehmer bereits geschlossen wurde.

8. Produktspezifische Ausschreibungen bleiben unzulässig, könnten jedoch aus der Pandemiesituation heraus gerechtfertigt sein, z.B. um keine zeitraubende Einarbeitung des Personals zu riskieren oder um eingespielte Abläufe in gesundheitswichtigen Bereichen nicht zu gefährden.

9. Die Anforderungen an die Klarheit der Leistungsbeschreibung nach §§ 7 EU-VOB/A, 31 VgV können nicht modifiziert werden. Bei Bauvorgaben erscheint es gerechtfertigt, dass der Auftraggeber bei beschleunigtem Bedarf auch ohne vorherige Bodenuntersuchungen ausschreibt, wenn er das damit verbundene Risiko zu tragen bereit ist. Es wäre ohnehin nicht durch vorformulierte Klauseln auf Bieter übertragbar, ebensowenig wie das Genehmigungsrisiko. Hier kann ggf. ausnahmsweise mit Bedarfspositionen gearbeitet werden, was in der Dokumentation gesondert zu begründen ist.

10. Fehlt es an der Zeit für die Ausarbeitung eines Leistungsverzeichnisses, kommt eine funktionale Ausschreibung nach § 7c EU-VOB/A in Betracht. Das entbindet den Auftraggeber aber nicht von dem Erfordernis einer klaren und eindeutigen Beschreibung dazu, was er bauen lassen will, denn § 7 EU Abs. 1 VOB/A gilt auch bei Beschreibung mittels Leistungsprogramm.

11. Ein neues (ggf. einziges) Kriterium für zugelassene Nebenangebote könnte die größere Schnelligkeit bei Lieferung/Errichtung sein. Hier muss mitgeteilt werden, wie das genau nachgewiesen und gewertet werden soll.

12. Gemäß § 8 EU Abs. 3 VOB/A kann im Vertrag auch ein schiedsrichterliches Verfahren vereinbart werden. Das eröffnet die Möglichkeit zur aussergerichtlichen Streitschlichtung, zum Beispiel durch ein Adjudikationsverfahren. Damit können Streitigkeiten oft innerhalb von 2-4 Monaten geregelt werden. Der Weg zu einem Gericht oder Schiedsgericht bleibt danach noch offen. Es empfiehlt sich, dazu die bestehende Verfahrensordnung der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS) zu vereinbaren.

13. Beeinflusst höhere Gewalt die Vertragsabwicklung, gerät keine der Parteien in Verzug. Daher sollte von der Vereinbarung von Vertragsstrafe von vornherein in dieser Situation abgesehen werden. Es könnte aber eine prämienbasierte Vergütung erwogen werden, z.B. Bonuszahlungen bei Übererfüllung bestimmter Leistungsmerkmale oder bei schnellerer Lieferung. Hier ist der Auftraggeber frei in seiner Vertragsgestaltung.

14. Eine Sicherheitsleistung soll nach § 9c EU VOB/A zwar vereinbart werden, wenn die Auftragssumme mehr als 250.000 € netto beträgt, es ist aber nicht unzulässig, von einer Sicherheitsleistung insbesondere für die Vertragserfüllung abzusehen. In Krisenzeiten würde dies kleineren Bieterunternehmen die Auftragsausführung finanziell erleichtern. Konkret erkennbaren Ansprüchen des AG kann während der Ausführung ohnehin durch Einbehalte von Rechnungen oder gegebenenfalls Vereinbarung spezifizierter Sicherheitsleistungen Rechnung getragen werden. Der Bund erwägt derzeit, bei Bauleistungen verstärkt Vorauszahlungen anzubieten. Darüber sollte im Vergabeverfahren gegebenenfalls aufgeklärt werden.

15. Die Angebotsfrist nach §§ 10 ff. EU VOB/A, 20 VgV kann je nach Dringlichkeit der Beschaffung sehr kurz gehalten werden. Möglicherweise können aber Bieter in Anbetracht gravierender Reise-und sonstiger, krisenbedingter Beschränkungen gerade komplexere Angebote nicht mehr so rasch wie üblich ausarbeiten, insbesondere wenn Nachunternehmer und Lieferanten/Planer mitarbeiten müssen. Ohne ein sauber ausgearbeitetes Angebot geht es nicht. Hier sollten sich Auftraggeber unbedingt flexibel zeigen, wenn Bieter verlängerte Angebotsfristen beantragen, sonst droht die Situation, dass kein oder nur ein extrem teures Angebot abgegeben wird. Ein Bieter kann bei der aktuellen Situation wohl auch aus Gleichbehandlungsgründen eine Verlängerung kurzer Fristen beanspruchen, wenn gerade er gegenüber anderen möglichen Bietern benachteiligt sein könnte (z.B. reisebeschränkter Auslandsbieter).

16. Ist eine Beschaffung eilig und/oder wichtig, wäre eine Aufhebung trotz vorliegenden Angebots u.U. angreifbar, denn dadurch würde eine beschleunigte Beschaffung letztlich nur weiter verzögert. Wer beschleunigt beschafft, übernimmt auch ein höheres Ergebnisrisiko.

17. Bleibt es bei aktuell bestehenden Reisebeschränkungen, sollte von der Einreichung von Probestücken, aber auch von persönlichen Verhandlungsrunden oder Aufklärungsgesprächen abgesehen werden. Auch Teststellungen sind u.U. problematisch. Das stellt gerade Verhandlungsverfahren und notwendige Aufklärungen bei allen Verfahren vor erhebliche Umsetzungsprobleme. § 3a VwVfG ebenso wie § 102a VwGO und § 128a ZPO ermöglichen inzwischen elektronische Kommunikation und auch Video-Übertragungen selbst in gerichtlichen Verhandlungen. Das rechtfertigt es, sogar in bereits laufenden Vergabeverfahren auf diese Möglichkeiten zurückzugreifen. Bei neu beginnenden Verfahren sollte in den Vergabeunterlagen klargestellt werden, dass Verhandlungen und Aufklärungsgespräche voraussichtlich in elektronischer Weise stattfinden werden.

18. Hat der Auftraggeber ein mehrstufiges Verhandlungsverfahren bekanntgemacht und keinen sofortigen Zuschlag vorbehalten, kann er nicht unter Berufung auf die aktuellen Pandemie-Beschränkungen gänzlich auf Verhandlungen verzichten, denn Bieter haben sich bei Abgabe ihres ersten Angebots auf die Verhandlungen und die anstehende Angebotsüberarbeitung eingestellt. Das gilt erst recht, wenn sich pandemiebedingt Änderungen in der Leistungserbringung ergeben sollen; dann müssen alle Bieter ihr Angebt anpassen können.

19. Schwierigkeiten bei Reisen und der Bildung größerer Gesprächsgruppen verunmöglichen auch die im Bereich freiberuflicher Leistung geschätzte Präsentation des Bieters beim Auftraggeber und Vorstellung des Teams, dessen Qualifikation der Wertung unterliegen soll, § 58 Abs. 2 Nr. 2 VgV. Auch hier kommt eventuell eine Videokonferenz als Alternative in Betracht.

20. § 55 SektVO gestattet es, Lieferangebote zurückzuweisen, bei denen mehr als 50% Warenanteil aus Nicht-EWR-Ländern stammt, mit denen auch keine sonstigen Marktzugangsvereinbarungen bestehen. Um diese Regelung über die SektVO hinaus auszudehnen, bedürfte es des Gesetzgebers, denn in allen anderen Vergabeordnungen dürfen regionale oder nationale Bieter nicht bevorzugt werden. In Anbetracht bestehender Reise-und Handelsbeschränkungen könnte erwogen werden, in Einzelfällen nationale Produkte aus Gründen der Lieferzuverlässigkeit zu bevorzugen oder dazu spezifische Kriterien für die Eignung und/oder Zuschlagskriterien zu schaffen. In die gleiche Kategorie fällt die Frage der Lieferketten, sodass es denkbar erscheint, in begründeten Fällen eine inländische oder wenigstens europäische Produktion als Eignungsmerkmal zu fordern.

21. Die Corona-Pandemie stellt für davon betroffene Verträge einen Fall der höheren Gewalt dar. Das wird auch vom Bundesbauministerium mir Rundschreiben vom 23.03.2020 anerkannt. Nach der Rechtsprechung liegt höhere Gewalt bei einem Ereignis vor, welches keiner Sphäre einer der Vertragsparteien zuzuordnen ist, sondern von außen auf die Lebensverhältnisse der Allgemeinheit oder einer unbestimmten Vielzahl von Personen einwirkt und objektiv unabwendbar sowie unvorhersehbar ist (vgl. BGH, Urteil vom 22. April 2004 – III ZR 108/03). Darunter fallen auch Krankheiten und Seuchen, wozu die COVID-19- Pandemie seit entsprechender Einordnung durch die WHO am 11.03.2020 zählt. Das gilt erst recht sei den neuesten Maßnahmen der Länder und Kommunen bis hin zu einer Ausgangssperre.

22. In kommenden und laufenden Vergabeverfahren sollte erwogen werden, eine Stoffpreisgleitklausel für besonders sensitive Rohstoffe oder Leistungsbestandteile einzuführen. Das kann für Stahl relevant werden, aber auch für Diesel, Bitumen, Kupfer oder besondere Rohstoffe. Selbst Luftfracht ist derzeit ein extrem schwieriger Versandweg und bedarf gegebenenfalls einer Regelung, falls im Vertrag preisrelevant. Die Musterklauseln aus den Vergabehandbüchern des Bundes sind allerdings inhaltlich problematisch und viel zu kompliziert. Es geht nur darum, evtl. künftige Preissteigerungen abzufedern, weil die Bieter sonst hohe Risikoaufschläge machen müssten. Dazu sollte man besser mit rechtlicher Beratung eine einfache eigene Regelung schaffen.

23. In den abzuschließenden Vertrag sollten Klauseln zur zeitlichen Verschiebung der Leistungserbringung aufgenommen werden, wenn die Pandemie zeitlichen Einfluss auf die Leistung hat. Dazu gehört auch die Schließung von oder Kurzarbeit in Zulieferbetrieben oder deren sonstiger Lieferausfall. Weil in einem Bauvertrag nach § 6 Abs. 7 VOB/B gekündigt werden kann, wenn die Bautätigkeit für mehr als 3 Monate unterbrochen werden muss, konnte auch dazu eine Sonderregelung erfolgen.

24. Ist die Leistungserbringung wegen der Pandemiemaßnahmen oder ihrer Folgen unzumutbar gestört, liegt höhere Gewalt vor (vgl. Palandt-Grüneberg, § 313 BGB, Rn. 32). Ursache kann sein, dass behördliche Verfügungen die Tätigkeit einschränken, ausländische Kolonnen nicht mehr einreisen können oder Lieferanten oder Nachunternehmer nicht mehr leisten bzw. liefern können. Im bestehenden Bauvertrag wird der Auftragnehmer Behinderung nach § 6 Abs. 1 VOB/B anzeigen, bei anderen Verträgen wird man analog verfahren, falls Störungen auftreten.

25. Höhere Gewalt führt nach § 6 Abs. 2 Nr. 1 c) VOB/B dazu, dass die Ausführungsfristen verlängert werden. Termine werden verschoben und sind im Zweifel gänzlich neu zu vereinbaren. Bei Zerstörung der Leistung durch höhere Gewalt gilt § 7 Abs. 1 VOB/B. Der Auftraggeber gerät bei höherer Gewalt nicht in Annahmeverzug nach § 642 BGB.

26. Es ist durchaus denkbar, dass sich auch ein Bieter im laufenden Vergabeverfahren auf einen Fall höherer Gewalt berufen kann, wenn er durch Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie daran gehindert ist, bestimmte Leistungen bei der Angebotsbearbeitung oder im weiteren Verfahrensverlauf fristgerecht zu erbringen.

27. Bereits laufende Ausschreibungen, zu denen vielleicht sogar schon Angebote vorliegen, können Randbedingungen enthalten, die in der aktuellen Situation nicht mehr vollständig erfüllbar sind oder deren Erfüllung unzumutbaren Aufwand oder Kosten verursacht. Solche Rahmenbedingungen können ebenfalls infolge höherer Gewalt nicht mehr unverändert gelten. Die aktuell außerordentlich schwerwiegenden Eingriffe in das Wirtschaftsleben führen überall dort, wo sie des Vertragswerkes direkt beeinflussen, zu einem Anspruch auf Vertragsanpassung aus Störung der Geschäftsgrundlage, § 313 BGB, infolge höherer Gewalt. Das umfasst insbesondere die vereinbarten bzw. vor Zuschlag noch im Angebotsstadium befindlichen Preise und Termine. Ergeht in dieser Situation ein Zuschlag auf das Angebot, das die Folgen der Pandemie noch nicht berücksichtigen konnte, sind diese Regelungen nach Zuschlag anzupassen. Es kommt aber auch eine Zurückweisung des Zuschlags durch den Bieter in Betracht. Stellt sich nach Zuschlag heraus, dass Materialpreise unzumutbar steigen oder bestimmte Materialien nicht mehr zu beschaffen sind, kann der Auftragnehmer in gravierenden Fällen ebenfalls eine Preisanpassung beanspruchen, auch wenn keine Preisgleitklauseln vereinbart sind, denn solche Entwicklungen konnten nicht im Angebot einkalkuliert werden.

28. Ist bei laufenden Ausschreibungen erkennbar, dass die ausgeschriebenen Rahmenbedingungen nicht haltbar sein werden, entsteht ebenfalls Änderungsbedarf. Das nicht übersehbare und damit auch nicht kalkulierbare Risiko kann nicht unmodifiziert in den Vergabeunterlagen verbleiben, schon weil dies gegen § 7 EU Abs. 1 VOB/A verstoßen würde. Bieter können hier von der Vergabestelle anpassende Maßnahmen beanspruchen. So könnte der Leistungsbeginn unter den Vorbehalt des Wegfalls der beschränkenden Maßnahmen gestellt werden (analog § 6 Abs. 4 VOB/B) oder die Pandemie-Störungen werden von vornherein als vertragsverlängernd vereinbart. Die Kalkulierbarkeit ist hier der Maßstab. Die Aufnahme von Preisgleitklauseln in die Vergabeunterlagen ist ebenfalls eine Möglichkeit zur Risikoabfederung.

29. Eine Bindefristverlängerung durch die Bieter nach Abgabe ihres Angebots im laufenden Verfahren kann auch dann, wenn sie in der gegenwärtigen Krise erfolgt, nicht dahin ausgelegt werden, dass Kostensteigerungen und eventuell notwendigen Modifikationen der Leistungserbringung infolge der Pandemie bereits in diesem Angebotspreis enthalten sind. Dies zeigt der Vergleich zur verzögerten Vergabe. Auch dort hat der BGH einer Bindefristverlängerung nicht zugleich die Wirkung zugemessen, dass damit auch die aktuell verschobenen Umstände inkludiert sind (BGH, Urt. v. 04.05.2009, VII ZR 1/08).

30. Beeinflusst höhere Gewalt die Vertragsdurchführung, kann der Auftraggeber von der Vergabe absehen. Unter Umständen entfällt sogar der Beschaffungszweck. Gehen wesentlich zu teure Angebote ein, oder entscheidet sich der Auftraggeber zu einer Verschiebung der Maßnahme infolge der unabsehbaren Konsequenzen aus der Pandemie, dürfte ein Aufhebungsgrund nach § 17 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A, § 63 Abs. 1 Nr. 2/4 VgV bestehen. Eine Verschiebung um wenige Wochen unter Beibehaltung der Beschaffungsart dürfte allerdings nicht ausreichen. Hier könnte ebenso gut ein Auftrag erteilt und eine zeitliche Anpassung vereinbart werden. Grundsätzlich muss feststehen, dass der Auftraggeber von den Pandemiefolgen überrascht wurde. Wer erst im März eine Ausschreibung begonnen hat, muss für die Pandemie und ihre Konsequenzen Vorsorge treffen und entsprechend flexiblere Vertragsklauseln als üblich vorsehen.

31. Sieht eine aktuelle laufende Ausschreibung keinerlei Vorkehrungengegen die Störungen aus der Pandemie vor, dürfte es gerechtfertigt sein, wenn Bieter in einem Begleitschreiben Hinweise erteilen und in Einzelfällen auch bestimmte Rahmenbedingungen als Geschäftsgrundlage hervorheben. Das könnte durch einen Hinweis auf die Erwartung einer störungsfreien Ausführungsmöglichkeit nach Zuschlag erfolgen. Ein unzulässiger Vorbehalt liegt darin nicht, denn dies wird beiderseits Geschäftsgrundlage der Ausschreibung gewesen sein. Entsprechendes gilt für einen Hinweis, dass Preise und Vertragsfristen gegebenenfalls anzupassen sind, wenn sie durch höhere Gewalt beeinflusst werden oder in sonstiger Weise die Geschäftsgrundlage wegfällt. Auch damit werden nur gesetzliche Regelungen, insbesondere § 313 BGB, wiedergegeben. Es ist auch ein Anspruch der Bieter wegen § 7 VOB/A bzw. § 31 VgV i.V.m. § 97 Abs. 1 GWB zu erwägen, dass wegen der nicht übersehbaren Folgen der pandemiebedingten Maßnahmen besondere Regelungen in dem abzuschließenden Vertrag getroffen werden, um den schon jetzt erkennbaren Erschwernissen Rechnung zu tragen.

32. Besondere Schwierigkeiten wirft ein laufendes Vergabenachprüfungsverfahren auf. Die Rügeverpflichtungen und deren Fristen nach § 160 Abs. 3 GWB und die Fristen zur Geltendmachung rechtswidriger Vergaben nach § 135 GWB wird man als gesetzliche Fristen kaum missachten können. Hier reicht aber in der Regel der Versand eines Schriftstücks und - bei Pandemie bedingt geschlossenen Vergabestellen - ein Zustellnachweis am Dienstsitz des Adressaten. Bei inaktiven oder nicht mehr vorschriftsgemäß besetzten Vergabekammern ist eine besonders gefährliche Frist zu beachten: Nach § 167 Abs. 1 GWB muss die Vergabekammer in 5 Wochen entscheiden, wenn nicht eine Fristverlängerung durch die Kammer verfügt wird. Entscheidet die Vergabekammer gar nichts innerhalb der Fünfwochenfrist, gilt der Nachprüfungsantrag gemäß § 171 Abs. 2 GWB als abgelehnt und es läuft die 2-Wochen-Frist für die sofortige Beschwerde nach § 172 Abs. 1 GWB. Durch einfaches Nichtstun der Vergabekammer verliert somit der Antragsteller das Nachprüfungsverfahren. Kein potentieller Antragsteller sollte sich darauf verlassen, dass hier vielleicht eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter Berufung auf höhere Gewalt möglich wäre.

33. Das Nachprüfungsverfahren selbst kann zwar ohne mündliche Verhandlung stattfinden, wenn die Parteien darauf verzichten. Die Erfahrung zeigt aber, dass eine mündliche Verhandlung im Regelfall zu wichtig ist, als dass man darauf verzichten könnte. Im Übrigen gibt es bei solchen Verhandlungen kein Versäumnisurteil, denn nach § 166 Abs. 2 GWB kann in der Sache auch dann verhandelt und entschieden werden, wenn die Beteiligten zum Termin nicht erschienen oder nicht ordnungsgemäß vertreten sind. Unter Ergreifung der notwendigen Abstandsmaßnahmen spricht aber nichts dagegen, in einem großen Sitzungsraum unter Anwesenheit der Parteien, gegebenenfalls bei etwas reduzierter Teilnehmerzahl zu verhandeln. Alternativ dürfte aber auch eine Videokonferenz nach § 3a VwVfG zulässig sein, da auch bei gerichtlichen Verhandlungen nach § 102a VwGO und § 128a ZPO elektronische Kommunikation und auch Video-Übertragungen möglich sind. Die Vergabekammer ist gut beraten, hierzu vorab vorsorglich die Zustimmung der Parteien einzuholen.

34. Ob die Corona-Pandemie eine Grundlage für eine Vorabgestattung des Zuschlags nach § 169 Abs. 2 GWB oder im Beschwerdeverfahren für die Ablehnung eines Antrags auf Verlängerung der aufschiebenden Wirkung nach § 173 Abs. 1 GWB darstellt, erscheint grundsätzlich zweifelhaft, kann aber bei Dringlichkeitsbeschaffungen zum Gesundheitsschutz eventuell in Erwägung gezogen werden. Der Auftraggeber muss sich aber des Risikos einer Schadensersatzhaftung auf das positive Interesse gewahr sein, denn die Gestattung des Zuschlags ist nicht mit einer Feststellung der Rechtmäßigkeit des Verfahrens gleichzusetzen.

Praxishinweis
Sicher kann bei diesem Themenkomplex noch an eine Vielzahl weiterer Fragestellungen gedacht werden. Im Einzelfall werden die Beteiligten sich einerseits von ihrem gesunden Menschenverstand Steuer lassen müssen, andererseits aber auch zur Absicherung rechtliche Beratung einholen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass belastbare Vorschriften zu dieser Situation nicht bestehen und selbst dann, wenn künftig noch Erlass oder Verwaltungsvorschriften veröffentlicht werden, auch diese letztlich einer gerichtlichen Überprüfung unterliegen. Möglicherweise kann bei laufenden Beschaffungen mit einer intensiven und offenen Kommunikation zwischen wiederum Vergabestellen (natürlich unter Wahrung des Wettbewerbs) möglichen Missstimmungen gut vorgebeugt werden.

  • Das Rundschreiben des Bundeswirtschaftsministeriums vom 19.3.2020 ist hier abrufbar (Quicklink-Nr.: 1042001)
  • Der Erlass des Bundesbauministeriums vom 23.03.2020 ist hier abrufbar  (Quicklink-Nr. 1042013)

Autor

Prof. Dr. Ralf Leinemann

Prof. Dr. Ralf Leinemann

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