News | Newsletter | Neues zum Vergaberecht 02/2020
Fehlende Finanzierbarkeit für zu teures Angebot: Ausschreibung kann aufgehoben werden!
Ein öffentlicher Auftraggeber darf nach einer Entscheidung der VK Sachsen-Anhalt (Beschluss vom 06.06.2019 – 3 VK LSA 18/19) bei Erfüllung aller Voraussetzungen an eine sorgfältig vorgenommene und ordnungsgemäß dokumentierte Kostenschätzung eine Bauvergabe bei einer deutlichen Überschreitung des Hauptangebotes gegenüber der Kostenschätzung nach § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A aufheben.
Die Auftraggeberin, das Land Sachsen-Anhalt, schrieb Tiefbauarbeiten aus. An der Ausschreibung beteiligte sich aufgrund der allgemein sehr guten Auftragslage nur ein Unternehmen. Kurz nach dem Eröffnungstermin informierte die Auftraggeberin die Bieterin, dass ihr Angebot mit 42,34 % über der Kostenschätzung liegt und dieses „unangemessen hoch“ sei. Im Übrigen fehlen im Haushaltsplan eingestellte Mittel für den zu teuren Auftrag. Die Auftraggeberin werde daher das Angebot nicht berücksichtigen und das Vergabeverfahren aufheben, da kein bezuschlagungsfähiges Angebot vorliege.
Hiergegen wendet sich die Bieterin im Nachprüfungsverfahren vor der der VK Sachsen-Anhalt mit zwei Argumenten: Einerseits, dass das abgegebene Angebot eine angemessene Preiskalkulation aufweist und andererseits, dass die Kostenschätzung des Landes jedenfalls zu beanstanden ist.
Das Nachprüfungsverfahren hatte jedoch keinen Erfolg. Die Entscheidung der VK Sachsen-Anhalt schließt sich der bisherige Rechtsprechung an und spricht noch einmal alle Aspekte für eine rechtmäßige bzw. unrechtmäßige Aufhebung eines Vergabeverfahrens an:
1. Bieter haben grundsätzlich keinen Anspruch auf Zuschlagserteilung – der öffentliche Auftraggeber hat demgemäß auch keine Pflicht zum Vertragsschluss (sog. „Kontrahierungszwang“, vgl. § 63 VgV).
2. Voraussetzung für eine vergaberechtskonforme Aufhebung des Verfahrens bei einem nicht wirtschaftlichen Ergebnis ist stets, dass der Auftraggeber die Kosten für die Ausführung der Leistung vorab ordnungsgemäß geschätzt und dokumentiert hat. Nach dem Bundesgerichtshof sind daran strenge Maßstäbe zu legen (BGH, Urteil vom 12.06.2001 – X ZR 150/99), wobei auch anerkannt ist, dass es sich bei einer Kostenschätzung um eine Prognose handelt, die von den Ausschreibungsergebnissen abweichen darf (BGH, Urteil vom 20.11.2012 – X ZR 108/10).
Eine korrekte Kostenschätzung des Auftragswertes wird auf Grundlage aller verfügbaren sowie kostenrelevanten Faktoren und Daten angemessen und methodisch vertretbar getroffen und ist wirklichkeitsnah. Erforderlich ist außerdem, dass die ex-ante Kostenschätzung zeitnah vor der Bekanntmachung erfolgt und ggfs. anzupassen ist. Ein Sicherheitsaufschlag auf das Ergebnis der geschätzten Kosten ist in Höhe von 10 % gefordert, da der öffentliche Auftraggeber zu berücksichtigen hat, dass es sich bei der Kostenermittlung nur um eine Schätzung handelt und Überschreitungen in der Praxis üblich sind. Die VK Sachsen-Anhalt hatte betreffend der hier zu beurteilenden Kostenschätzung keinerlei Bedenken, sodass diese ordnungsgemäß erfolgt war.
3. Das bezuschlagungsfähige Angebot muss „deutlich“ über der Kostenschätzung liegen, um eine Aufhebung erst zu ermöglichen. Die Gerichte entscheiden hier je nach Einzelfall und haben „deutliche“ Überschreitungen bei Werten von 37 %, 50 % oder – wie in diesem Fall – bei 42,34 % bejaht.
4. Hinzutreten muss ferner, dass die Aufhebung im Rahmen einer umfassenden Einzelfallbetrachtung ermessensfehlerfrei abgewogen worden ist. Bei dieser Interessenabwägung muss berücksichtigt werden, dass dem öffentlichen Auftraggeber nicht das Risiko einer deutlichen überhöhten Preisbildung auferlegt wird und andererseits die Aufhebung nicht missbraucht wird, um das Ergebnis der Ausschreibung beliebig zu korrigieren (BGH, Urteil vom 20.11.2012 – X ZR 108/10). Die Aufhebung einer Ausschreibung ist deswegen immer dann vergaberechtskonform, wenn den öffentlichen Auftraggeber keinerlei Verantwortlichkeit hinsichtlich des Aufhebungsgrundes trifft (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29.08.2018 – Verg 14/17). Die fehlende Finanzierung durfte somit nicht auf Fehler des Auftraggebers bei der Ermittlung des Finanzierungsbedarfs zurückzuführen sein. Ist die Finanzierung z.B. bereits bei der Kostenschätzung erkennbar nicht gesichert, ist eine spätere Aufhebung deshalb rechtswidrig (VK Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 12.09.2018 – 3 VK LSA 49/18). Die VK Sachsen-Anhalt konnte in jenem Fall jedoch keine Fehler feststellen, weswegen die Aufhebungsentscheidungen nicht zu beanstanden war und der Nachprüfungsantrag keinen Erfolg hatte.
Fazit:
Da der öffentliche Auftraggeber keinem Kontrahierungszwang unterliegt, kann er das Vergabeverfahren immer und auch ohne Vorliegen eines Aufhebungsgrundes wirksam aufheben (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16.10.2013 – Verg 16/13). Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, ob die Aufhebung des Verfahrens auch rechtmäßig erfolgt ist, mit der sich die VK Sachsen-Anhalt im Rahmen von § 17 EU VOB/A zu beschäftigen hatte. Die Kammer hat die Aufhebungsentscheidung sowohl als wirksam als auch rechtmäßig angesehen. Das an der ordnungsgemäßen Kostenschätzung gemessene deutlich teurere Angebot und die mangelnde Finanzierbarkeit des Vorhabens berechtigten damit als „schwerwiegender Grund“ gem. § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A zur Aufhebung der Ausschreibung.
Die hohen Voraussetzungen an eine ordnungsgemäße Kostenschätzung hat die Rechtsprechung aufgestellt, um zu verhindern, dass Vergabeverfahren beliebig aufgehoben werden. Denn wenn der Auftraggeber den Preis nur subjektiv für überhöht hält, obwohl er den gegebenen Marktverhältnissen entspricht, reicht dies nicht zur Aufhebung des Vergabeverfahrens. Hat der öffentliche Auftraggeber hingegen die Kostenschätzung des Auftragswertes ordnungsgemäß und methodisch korrekt durchgeführt und diese dokumentiert, kann der Auftraggeber bei deutlich überhöhten Angeboten wirksam und auch vergaberechtskonform aufheben.
Gegen die Aufhebungsentscheidung kann oberhalb der Schwellenwerte nach § 160 GWB ein Nachprüfungsverfahren vor der zuständigen Vergabekammer eingeleitet werden, in dem die Rechtmäßigkeit der Aufhebungsentscheidung überprüft wird. Die Vergabekammer überprüft die Kostenschätzung und ob erkenntliche Ermessensfehler vorliegen.
Den Bietern stehen im Falle einer vergaberechtswidrigen Aufhebung Schadensersatzansprüche in Form von Angebotserstellungskosten und/oder entgangenem Gewinn zu. Denn mit der Teilnahme der Bieter an einem förmlichen Vergabeverfahren entsteht ein vorvertragliches Vertrauensverhältnis mit Sorgfalts- und Schutzpflichten, deren Verletzung Schadensersatzansprüche gem. §§ 280, 311 Abs. 2 BGB begründen (BGH, Urteil vom 27.11.2007 – X ZR 18/07). Diese Ansprüche sind vor den Zivilgerichten zu verfolgen, wobei die Entscheidung der Vergabekammer Bindungswirkung hat.
Die Rechtsprechung billigt denjenigen Bietern Ersatz ihres entgangenen Gewinns zu, bei denen die Ausschreibung absichtlich aufgehoben worden ist, damit sie den Auftrag nicht erhalten (sog. „Scheinaufhebung“, OLG München, Beschluss vom 4.4.2013 – Verg 4/13). Ein Anspruch auf Ersatz des entgangenen Gewinns besteht dann aber nur, wenn der betroffene Bieter den Auftrag bei rechtmäßiger Durchführung des Vergabeverfahrens hätte erhalten müssen und der ausgeschriebene oder ein diesem wirtschaftlich gleichzusetzender Auftrag vergeben worden ist (OLG Schleswig, Urteil vom 19.12.2017 - 3 U 15/17).