Section-Image

Vorsicht, wenn es „plötzlich“ schnell gehen muss!

Das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb bietet Auftraggebern die Möglichkeit, direkt und weitestgehend formlos auf Unternehmen mit der Bitte um Angebotsabgabe zuzugehen. Auf diese Form wird in der Praxis besonders gerne zurückgegriffen, da durch den Verzicht auf die öffentliche Aufforderung zur Teilnahme eine erhebliche Zeiteinsparung bei gleichzeitiger Erhaltung der Flexibilität eines Verhandlungsverfahrens erreicht werden kann. Zudem bietet das vergleichsweise weite Auswahlermessen des öffentlichen Auftraggebers hinsichtlich der am Verfahren zu beteiligten Unternehmen die Möglichkeit vermeintlich „unliebsame“ Bieter von vorn herein von der Ausschreibung auszuschließen.

Aufgrund der erheblichen Einschränkungen des Wettbewerbs, die diese Vergabeart zwangsläufig bewirkt, sind die Voraussetzungen, unter denen ein solches Verfahren durchgeführt werden darf, äußerst eng. Besonders beliebt scheint in der Praxis eine Begründung über die Ausnahmeregelung des § 14 Abs. 4 Nr 3. VgV (bzw. § 3a EU Abs. 3 Nr. 4 VOB/A), die jedoch nur dann eingreift, wenn ein Fall äußerster Dringlichkeit vorliegt.

Welche Anforderungen an die äußerste Dringlichkeit zu stellen sind hat das OLG Frankfurt in einer kürzlich veröffentlichten Entscheidung (Beschluss vom 07.06.2022 - 11 Verg 12/21) nochmals klargestellt.

Sachverhalt

Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) schrieb die Herstellung von Aufzugsanlagen für ein neu zu errichtendes Klinikgebäude in einem Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb während der laufenden Baumaßnahme erneut aus, nachdem sie den ursprünglichen Auftrag, den sie ordnungsgemäß vergeben hatte, gekündigt hatte.

Nach der Kündigung des ursprünglich betrauten Auftragnehmers ließ sich der AG, da der Baufortschritt dies zunächst zuließ, mehrere Monate Zeit, ehe sie die Neuausschreibung der Leistungen anging. Durch die Wahl des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb erhoffte sich der AG eine zeitliche Einsparung von zwei Monaten im Hinblick auf die Fertigstellung des Gebäudes, während eine spätere Fertigstellung hohe wirtschaftliche Nachteile mit sich bringe. Nach einer Markterkundung lud der AG daher ausgewählte Unternehmen zur Teilnahme an dem Verfahren ein, von denen ein Unternehmen ein Angebot abgegeben hat und den Zuschlag erhalten hat.

Die Antragstellerin, welche nicht zur Angebotsabgabe eingeladen wurde, rügte zahlreiche Modalitäten der Vergabe, in erster Linie jedoch die Wahl der Vergabeart. Ihrer Ansicht nach war keine äußerste Dringlichkeit i.S.d. § 3a EU Abs. 3 Nr. 4 VOB/A gegeben und somit lag auch kein Grund vor, den Teilnahmewettbewerb und so auch die Möglichkeit der Teilnahme der Antragstellerin auszuschließen.

Entscheidung

Das OLG Frankfurt gab der Antragstellerin Recht und erklärte den geschlossenen Vertrag gemäß § 135 GWB für von Anfang an unwirksam. Denn

„Äußerste Dringlichkeit ist regelmäßig bei unaufschiebbaren, nicht durch den Auftraggeber verursachten Ereignissen anzunehmen, bei denen eine gravierende Beeinträchtigung für die Allgemeinheit und die staatliche Aufgabenerfüllung droht, etwa durch einen schweren, nicht wiedergutzumachenden Schaden. Als dringliche und zwingende Gründe kommen deshalb akute Gefahrensituationen und höhere Gewalt in Betracht, die zur Vermeidung von Schäden der Allgemeinheit ein sofortiges, die Einhaltung von Fristen ausschließendes Handeln erfordern Beispiele sind die Behebung von Sturm- und Brandschäden oder sonstigen Katastrophenschäden sowie die Beschaffung von Leistungen, die der kurzfristigen Bewältigung von Krisen (etwa der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020) und der Aufrechterhaltung des Dienstbetriebs der öffentlichen Verwaltung dienen. Eine äußerste Dringlichkeit kann hingegen nicht mit bloßen wirtschaftlichen Erwägungen begründet werden

Allein der hohe wirtschaftliche Schaden, welcher der AG vorgeblich drohe, sei also kein ausreichender Grund um die außerordentliche Dringlichkeit zu begründen. Zudem merkt das OLG an, dass die äußerste Dringlichkeit jedenfalls voraussetze, dass selbst die auf ein zulässiges Maß verkürzten Teilnahme- und Angebotsfristen zu lang sein müssten, um den Beschaffungsbedarf zu decken. Im entschiedenen Falle sei jedenfalls eine Ausschreibung in einer zulässigen Verfahrensart unter Fristverkürzung auf höchstes 15 Kalendertage möglich gewesen.

Auswirkungen auf die Praxis

Auftraggeber sollten – bevor sie an eine Ausnahmebegründung über die „äußerste Dringlichkeit“ überhaupt nur denken – stets vorrangig prüfen, wie dringend die Vergabe letztlich wirklich ist: Besteht die Möglichkeit die Leistung unter Einhaltung der Regelfristen in einem Regelverfahren auszuschreiben, ist dieser Weg grundsätzlich auch zu beschreiten.

Sollte dies nicht möglich sein, sollte zunächst an die Möglichkeiten der Fristverkürzungen für die Fälle der „einfachen“ Dringlichkeit gedacht werden (vgl. § 15 Abs. 3 VgV / § 10a EU Abs. 3 VOB/A).

Allenfalls dann, wenn auch die verkürzten Fristen zu lang erscheinen, kommt ein Fall der äußersten Dringlichkeit (möglicherweise und im absoluten Ausnahmefall) in Betracht.

Im Übrigen sollte jeder, der in der Praxis mit Dringlichkeitsvergaben in Berührung kommt, folgendes Zitat der VK Lüneburg (Beschluss vom 23.06.2021 – VgK-19/2021) im Hinterkopf behalten:

„Ein durch die Untätigkeit des öffentlichen Auftraggebers entstandener Zeitdruck rechtfertigt keine Vergabe im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb."

Autor

Jonas Deppenkemper

Jonas Deppenkemper

Weitere Artikel dieser Ausgabe

  • Mark von Dahlen: Referenzen - Eignungsleihe vs. Selbstausführungsgebot

     

  • Sabrina Stahler (geb. Hißting): Ausschluss bei niedriger Qualitätswertung zulässig!