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Zulässigkeit eines Nachprüfungsantrages vor Rüge zugunsten eines effektiven Rechtsschutzes?

Das OLG Karlsruhe hat entschieden: In Ausnahmefällen ja! Grundsätzlich sieht das Vergaberecht vor, dass vor Einreichen eines Nachprüfungsantrages bei einer Vergabekammer (VK) eine Rüge gegenüber dem Auftraggeber zu erheben ist. In welchen Einzelfällen von dieser zeitlichen Abfolge nach Ansicht des OLG Karlsruhe zugunsten eines effektiven Rechtsschutzes abgewichen werden kann, legte der Vergabesenat in seinem Beschluss vom 15.01.2021 (15 Verg 11/20) dar.

Der Sachverhalt

Der Auftraggeber schrieb die Realisierung von Lernfabriken europaweit aus. Mit Informationsschreiben vom 18.09.2020 teilte er der Antragstellerin mit, dass beabsichtigt sei, den Zuschlag am 29.09.2020 auf das Angebot einer Konkurrentin zu erteilen.

Die Antragstellerin reichte per Telefax am Nachmittag des 28.09.2020 bei der VK einen Nachprüfungsantrag ein, ohne vorher gegenüber dem Auftraggeber eine Rüge erhoben zu haben. Eine halbe Stunde später übermittelte die Antragstellerin dem Auftraggeber mit einem Telefax eine Rüge. Zur Begründung verwies die Antragstellerin auf ihren Nachprüfungsantrag, der dem Schreiben beilag.

Die VK wies den Nachprüfungsantrag mit der Begründung, dass eine Rüge gegenüber dem Auftraggeber vor Einreichen eines Nachprüfungsantrages erfolgen müsse, vgl. § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB, als unzulässig zurück. Die Antragstellerin legte hiergegen sofortige Beschwerde ein und führte aus, dass eine Rüge jedenfalls dann auch erst gemeinsam mit dem Einreichen des Nachprüfungsantrages erfolgen könne, wenn die Zuschlagserteilung wie in diesem Fall unmittelbar bevorstehe.

Die Entscheidung

Nach Auffassung des Vergabesenats war der Nachprüfungsantrag zwar im Ergebnis unbegründet, aber zulässig.

So stelle das Schreiben der Antragstellerin eine ordnungsgemäße Rüge dar. Die 10-Tages-Frist des § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB habe erst am Abend des 28.09.2020 geendet, sodass die Antragstellerin sie eingehalten habe. Der Vorschrift lasse sich gerade nicht entnehmen, dass der Bieter in jedem Fall eine Rüge vor Einreichen des Nachprüfungsantrags erheben müsse. Sinn und Zweck der Regelung sei es zwar, dass der Vergabestelle die Möglichkeit gegeben werde, etwaige Vergaberechtsverstöße möglichst frühzeitig zu beseitigen und hierdurch unnötige Nachprüfungsverfahren zu vermeiden.

Es könnte jedoch an dem Erfordernis der vorherigen Rüge jedenfalls dann nicht festgehalten werden, wenn der Antragsteller erst so spät von dem Vergaberechtsfehler erfährt, dass zu befürchten sei, dass er seine Rechte infolge des bevorstehenden Zuschlags nicht mehr geltend machen könnte. Ansonsten könnte der Bieter entweder die ihm vom Gesetzgeber zugestandene Rügefrist von 10 Tagen nicht ausschöpfen oder er würde Gefahr laufen, dass der Auftraggeber den Zuschlag erteile und damit keine Überprüfung mehr erfolge.

Schließlich wäre die Forderung einer vorherigen Rüge vorliegend reine Förmelei. Denn es sei nicht davon auszugehen, dass der Auftraggeber bei einer wenige Minuten vor Einreichen des Nachprüfungsantrages erhobenen Rüge sachgerecht darauf hätte reagieren können.

Praxishinweise

Die Entscheidung des OLG Karlsruhe überrascht. So muss nach § 161 Abs. 2 GWB die Begründung des Nachprüfungsantrages auch enthalten, dass eine Rüge gegenüber dem Auftraggeber erfolgt ist. Diese Norm, die von dem Vergabesenat nicht berücksichtigt wurde, sieht damit explizit eine zeitliche Abfolge von vorher erfolgter Rüge und anschließendem Nachprüfungsantrag vor.

Trotz der extensiven Entscheidung des OLG zugunsten eines effektiven Rechtsschutzes in bestimmten Fällen bleibt es für Bieter grundsätzlich ratsam und rechtssicherer, auch unter Zeitdruck einen Vergabeverstoß immer erst zu rügen. Von Auftraggeberseite kann einem erhöhten Zeitdruck der Bieter und in Folge einem gegebenenfalls gesteigerten Aufkommen von Nachprüfungsanträgen entgegengewirkt werden, indem sie den Zeitrahmen in Vorabinformationsschreiben großzügig gestalten.

Autor

Clarissa Sophie Busato, LL.M.

Clarissa Sophie Busato, LL.M.

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