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Kein selbständiges Beweisverfahren zulässig, wenn die Parteien eine Schiedsgutachtenabrede getroffen haben

BGH, Beschluss vom 26.01.2022, VII ZB 19/21

Mit einer Grundsatzentscheidung vom 26.01.2022 (VII ZB 19/21) hat der BGH einige Zweifelsfragen klargestellt, die die Reichweite einer vertraglichen Schiedsgutachtervereinbarung betreffen. Grundlage ist die oft übersehende Vorschrift des § 18 Abs. 4 VOB/B. Danach kann in einem Bauvertrag jede Partei bei Meinungsverschiedenheiten über die Eigenschaft von Stoffen und Bauteilen, für die allgemeingültige Prüfungsverfahren bestehen, und über die Zulässigkeit oder Zuverlässigkeit der bei der Prüfung verwendeten Maschinen oder angewendeten Prüfungsverfahren die Untersuchung durch eine staatlich anerkannte Materialprüfungsstelle durchführen lassen. Deren Feststellungen sind verbindlich. Eine ähnliche Schiedsgutachterklausel enthält Ziff. 2.3.6 ZTV-ING, Teil 1, Abschnitt 1, die im meist bei Aufträgen für den Brückenbau vereinbart wird.

Im entschiedenen Fall - er betrifft den Neubau der A1 Rheinbrücke Leverkusen - hatte der später gekündigte Generalunternehmer am 16.04.2020 die Einleitung einer Schiedsuntersuchung über vom Auftraggeber behauptete Mängel an Stahlbauteilen beantragt, dafür eine staatlich anerkannte Prüfstelle benannt sowie die relevanten Unterlagen dorthin versandt. Am 27.04.2020 beantragte der Auftraggeber beim zuständigen Landgericht Köln die Einleitung eines selbstständigen Beweisverfahrens. Auch hier ging es um die Feststellung/Prüfung behaupteter Mängel an Stahlbauteilen für die Brücke.

LG Köln und OLG Köln wiesen den Antrag auf Durchführung eines selbstständigen Beweisverfahrens als unzulässig zurück, da bereits ein Schiedsgutachterverfahren eingeleitet sei. Der BGH weist die Rechtsbeschwerde des Auftraggebers ebenfalls zurück. Ein selbständiges Beweisverfahren ist grundsätzlich unzulässig, weil aufgrund einer vorrangigen Schiedsgutachtervereinbarung nach § 18 Abs. 4 VOB/B kein rechtliches Interesse an Feststellungen besteht, die Gegenstand der beantragten Begutachtung durch eine staatlich anerkannten Prüfstelle sein sollen. Es besteht somit eine Sperrwirkung der Schiedsgutachterabrede, die jedenfalls immer dann greift, wenn sich eine Partei auf die Schiedsgutachtervereinbarung beruft.

In Rechtsprechung und Literatur war bislang unklar, welche Reichweite § 18 Abs. 4 VOB/B hat. Der BGH schließt sich der mehrheitlich vertretenen Auffassung an, wonach die vorherige oder parallele Durchführung eines selbstständigen Beweisverfahrens unzulässig ist, soweit der Gegenstand der Schiedsgutachtenabrede reicht. Durch die Schiedsgutachtenabrede bringen die Parteien ihren Willen zum Ausdruck, dass sie bei entstehenden Streitigkeiten ein Schiedsgutachten wünschen. Das bedeutet zugleich, dass dazu gerade keine gerichtliche Beweiserhebung erfolgen soll. Liegen Feststellungen des Schiedsgutachters vor, sind sie nur noch eingeschränkt gerichtlich überprüfbar. Gemäß §§ 317ff. BGB können allenfalls besonders schwere Fehler zur Aufhebung der schiedsgutachterlichen Feststellung führen.

Der BGH stellt ebenfalls klar, dass das schiedsgutachterliche Verfahren nach § 18 Abs. 4 VOB/B die Verjährung hemmt. Es stellt ein vereinbartes Begutachtungsverfahren im Sinne von § 204 Abs. 1 Nr. 8 BGB dar. Mit seiner Einleitung wird die Verjährung aller Ansprüche, die mit dem Prüfungsauftrag in Verbindung stehen, bzw. zu deren Durchsetzung es auf die Begutachtung ankommt, gehemmt.

Läuft das Schiedsgutachterverfahren bereits, kann es auch zu einem Wechsel in der Person des Gutachters kommen. Auch dann bleibt ein selbstständiges Beweisverfahren weiter unzulässig. Ergänzend weist der BGH am Ende seines Beschlusses noch darauf hin, dass ein selbstständiges Beweisverfahren auch nicht deshalb zulässig wäre, weil Teile der Stahlbauteile im Ausland liegen. Dies begründet für sich gesehen noch keine Besorgnis eines Beweismittelverlusts und damit auch keine Zulässigkeit nach § 485 Abs. 2 ZPO.

Praxishinweis: In fast allen Bauverträgen ist die VOB/B vereinbart, im Ingenieurbau auch die ZTV-ING. Beide Vorschriften geben jeder Vertragspartei die Möglichkeit, bei Streitigkeiten über Mängel an Bauteilen ein Schiedsgutachten einzuholen. Das geht meist wesentlich schneller als ein selbständiges Beweisverfahren beim staatlichen Gericht. Die Auswahl der Schiedsgutachter ist zwar auf staatliche (anerkannte) Materialprüfstellen beschränkt, dürfte aber dadurch auch eine praxisnahe Gutachterauswahl sicherstellen.

 

Autor

Prof. Dr. Ralf Leinemann

Prof. Dr. Ralf Leinemann

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