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BGH: Kein Angebotsausschluss mehr bei „Änderung an den Vergabeunterlagen“

  1. Sehen die Vergabeunterlagen eines öffentlichen AG vor, dass abweichende Erklärungen oder Unterlagen des Bieters oder dessen Vertragsbedingungen nicht Vertragsbestandteil werden, bleiben solche Abweichungen in Bieterunterlagen in der Regel folgenlos und führen nicht zum Ausschluss des Angebots wegen unzulässiger Änderungen an den Vergabeunterlagen.
  2. Auch wenn ein Bieter einen Vergaberechtsverstoß erkennt oder erkennen kann und ihn nicht innerhalb der in § 160 Abs. 3 GWB genannten Fristen rügt, wird er dadurch in einem späteren Schadensersatzprozess nicht präkludiert.
  3. Die Kalkulationsfreiheit ermöglicht es dem Bieter, bestimmte Kosten, für die keine gesonderte Position im LV vorgesehen ist, auch nicht an anderer Stelle seiner Preise oder seiner Kalkulation einzustellen. Es stellt keinen Ausschlußgrund dar, dass der AG derartige Kosten weder aus dem LV noch der Kalkulation des Bieters erkennen kann. Der Bieter ist zudem weder verpflichtet, eine einheitliche Kalkulationssystematik bei allen angebotenen Positionen anzuwenden, noch muss er mit seinen angebotenen Einheitspreisen mindestens den tatsächlich entstehenden Kosten abdecken.

BGH, Urteil vom 18.06.2019 - X ZR 86/17

Sachverhalt:

Der Vergabesenat des BGH hat am 08.08.2019 ein für die Praxis enorm wichtiges Urteil erlassen, das erst jüngst veröffentlicht wurde. Mit großem Engagement wendet sich das Gericht darin gegen den traditionellen Ausschlussgrund der „Änderung der Vergabeunterlagen“. Einen Ausschluss aus diesem Grund hält das Gericht in den meisten Fällen für ungerechtfertigt. Der entschiedene Fall verdeutlicht dies an mehreren Beispielen, die in der Praxis häufig vorkommen.

Grundlage ist die Schadensersatzklage eines Bieters, der von einem Vergabeverfahren nach VOB/A ausgeschlossen wurde, diesen Ausschluss rügte, dann aber kein Nachprüfungsverfahren einleitete. Nachdem der Zuschlag an einen anderen Bieter erteilt wurde, klagte der ausgeschlossene Bieter gegen den AG auf Schadensersatz, weil er zu Unrecht ausgeschlossen wurde. Nachdem er die ersten beiden Instanzen verloren hatte, gab der BGH dem Kläger schließlich Recht.

Der BGH sieht kein Problem darin, dass nicht schon im laufenden Vergabeverfahren Rechtsmittel eingelegt wurden. Um später im Zivilprozess einen Schaden aus rechtswidriger Vergabepraxis des AG geltend zu machen, ist ein Bieter grundsätzlich nicht verpflichtet, im laufenden Vergabeverfahren bereits gegen die Vergabestöße des AG vorzugehen. Das ist eine wichtige Klarstellung des BGH, durch die das Risiko für öffentliche Auftraggeber, selbst nach erfolgreich abgeschlossenen Vergabeverfahren später noch auf Schadensersatz in Anspruch genommen zu werden, erheblich steigt. Damit war der Weg für den BGH frei, die konkret vom AG geltend gemachten Ausschlussgründe allesamt zu überprüfen.

Der Ausschluss des Klägers (Bieters) wurde vom AG zunächst damit begründet, dass er in seinem Angebot nach der Preiszusammenstellung den Zusatz „Zahlbar bei Rechnungserhalt ohne Abzug“ hinzugesetzt hatte. Die den Vergabeunterlagen beigefügten Zahlungsbedingungen des AG sahen jedoch eine Zahlung innerhalb von 30 Kalendertagen vor. Ferner enthielt § 1 Abs. 1.3 der ZVB des AG eine Abwehrklausel gegen ändernde Bedingungen des AN mit folgendem Wortlaut: „Etwaige Vorverträge, unter § 1.2 nicht aufgeführte Unterlagen, Protokolle oder sonstige Korrespondenz im Zusammenhang mit dem Abschluss dieses Vertrages, insbesondere Liefer-, Vertrags- und Zahlungsbedingungen des AN sind nicht Vertragsbestandteil.“ Bis vor kurzem hätte man die abweichenden Zahlungsbedingungen des Bieters wohl überwiegend als Ausschlussgrund gesehen. Der BGH wendet sich ganz engagiert dagegen, weil die Abwehrklausel aus den ZVB des AG gilt und die abweichenden Zahlungsbedingungen des Bieters ausschließt. Damit liegt keine „Änderung der Vergabeunterlagen“ vor.

Der BGH geht noch weiter: Alle Klauseln eines Bieters, die zu den Vergabeunterlagen widersprüchlich sind, dürften in der Regel als Missverständnis auf Bieterseite auszulegen sein. Auch wenn es keine Abwehrklausel gegeben hätte, wäre zunächst nach § 15 EU Abs. 1 Nr. 1 VOB/A eine Aufklärung erforderlich gewesen. Dann hätte sich die widersprechende Angabe/Forderung des Bieters auch als Versehen herausstellen können.

Als zweiten Ausschlussgrund nannte der AG das Verhalten des Bieters, entgegen den Vorgaben des LV neben den in eigenen Positionen anzubietenden Kosten zur Baustelleneinrichtung (BE) in der Kalkulation der Einheitspreise nicht die Kosten für das Vorhalten und Betreiben der BE (Geräte, Anlagen und Einrichtungen) angegeben zu haben. Außerdem sei der Bieter ungeeignet, weil er die Baustelle ohne Bauleiter kalkuliert habe.

Der BGH sieht hier einen Verstoß des AG gegen die Kalkulationsfreiheit der Bieter. Da das LV keine besonderen Positionen einerseits für das Vorhalten und Betreiben und auch nicht für einen Bauleiter vorsieht, besteht kein sachlicher Grund, die Einung des Bieters zu verneinen, nur weil er dazu nichts kalkuliert oder angegeben hat. Er ist frei darin, keinen Preisansatz vorzusehen, wenn das nicht ausdrücklich gefordert wird. Aus § 13 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A lässt sich auch nicht ableiten, dass jede Position des Leistungsverzeichnisses nach den gleichen Maßstäben kalkuliert und dass insbesondere der für jede Position verlangte Preis mindestens den hierfür entstehenden Kosten des Bieters entsprechen müsste (so schon BGH, Urteil vom 19.06.2018 - X ZR 100/16).

Ein Ausschluss konnte im konkreten Fall auch nicht darauf gestützte werden, dass der Bieter bei Positionen, wo der AG in das LV als „Produkt“ nur einen Werkstoff/Baustoff (o. glw.) eingetragen hatte, in der Zeile „angebotenes Fabrikat“ seinerseits auch wieder nur den Werkstoff/Baustoff eintrug. Weil es hier schon an einer hinreichend klaren Vorgabe für die Art der Angabe fehlte, konnte das nicht als Ausschlussgrund akzeptiert werden.

Fazit:

Mit diesem wegweisenden Urteil macht der BGH dem tradierten Ausschlussgrund der „Abweichung von den Vergabeunterlagen“ weitgehend den Garaus. Künftig wird in solchen Fällen praktisch immer eine Angebotsaufklärung mit dem Bieter vorzunehmen sein. Verwendet der AG Abwehrklauseln, mit denen widersprechende AGB oder sonstige Angaben des Bieters als ungültig bezeichnet werden, bleiben solche Bieterabweichungen künftig generell unbeachtlich. Abweichende Formulierungen eines Bieters beruhen oft nur auf einem Missverständnis über die Vorgaben der Vergabeunterlagen. In der Aufklärung kann der Bieter von abweichenden Klauseln oder Formulierungen Abstand nehmen. Das geht nur dann nicht, wenn der Bieter bewusst von Vorgaben abweicht, etwa weil er diese für falsch hält.

Autor

Prof. Dr. Ralf Leinemann

Prof. Dr. Ralf Leinemann

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